Daniel Hornuff

© Felix Grünschloß

Wissenschaft und Postfaktizität. Sieben Thesen

Vorab-Veröffentlichung aus: ZiF-Mitteilungen, 3/2017, erscheint am 01. September 2017.

 

 

Hintergrund des Beitrags ist ein am 07. Juli 2017 gehaltener Gastvortrag am Zentrum für interdisziplinäre Forschung Bielefeld. Thema: Die Situation der Wissenschaften im postfaktischen Zeitalter. Im Anschluss entspann sich eine Kontroverse über die öffentliche Rolle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Diese Diskussion wiederum gab Anlass, die Thesen des Vortrags zu pointieren und für das Mitteilungsorgan des ZiF aufzubereiten. Die Standpunkte finden sich unten vorab veröffentlicht – verbunden mit dem Ziel, die Debatte in einem öffentlichen Rahmen fortzuführen.

 

 

1. Fakten sind nicht rein

Im Alltagsverständnis steht ein Faktum für das In-sich-Abgeschlossene, das Verbindliche. Einem wissenschaftlichen Denken gelten Fakten als Ergebnisse der Wahrnehmung, als relationale Ereignisse. Sich auf Fakten zu berufen, sich gar zu ihnen zu bekennen, mag zwar intuitiv überzeugen. Umso mühevoller ist es, sich bewusst zu machen, dass Fakten nur unter je eigenen Voraussetzungen als solche auftreten.  

 

2. Postfaktizität ist geschichtsignorant

Die Rede vom postfaktischen Zeitalter ist auf die Ausblendung ihrer ideengeschichtlichen Bedingtheit angewiesen. Sie übergeht die postmoderne Überwindung des modernen Substanzialismus, der seinerseits Folge poststrukturalistischer Debatten war: Dass Wirklichkeit auch sprachlich geprägt und folglich durch Sprache mitzugestalten sei, ist kein Vorwurf, sondern eine erkenntnistheoretische Konsequenz. Michael Hampe variierend: Das Verhältnis zwischen Poststrukturalismus und Postfaktizität ist wohl eher als begriffliche Korrelation denn als politische Kausalität anzusehen.

 

3. 'Alternative facts' sind Instrumente der Macht

Entscheidend ist, dass die Reden von 'alternative facts' als Mittel politischer Machtinteressen fungieren – und als solche auch benannt werden sollten! Sie stehen im Dienste von etwas (genauer: von jemandem), bilden selbst also keine abschließenden Fakten. Sie sind (bloßer) Teil eines strategischen Kalküls.

 

4. Wissenschaft reagiert mit einer Renaissance des Positivismus

Umso fataler ist es, dass Teile der Wissenschaft mit positivistischen Reflexen antworten – und sich selbst als Monopolisten der Fakten begreifen, sich also in Essentialisierungswettbewerbe mit Rechtspopulisten ziehen lassen. Zu Recht hat Armin Nassehi die Kurzsichtigkeit des  March for Science und dessen vorkantianische Slogans („Zu Fakten gibt es keine Alternative“) kritisiert.  

 

5. Aufklärung statt Aufgeklärtheit

Sich einzugestehen, dass selbst vermeintlich härtesten Fakten methodologische Prämissen zugrunde liegen, bedeutet, sich von der Arroganz der eigenen Aufgeklärtheit zu verabschieden. An ihre Stelle müsste ein prozessuales Verständnis von Aufklärung treten. Auf Dogmen sollten keine neuen Dogmen folgen, sondern die gezielte Befragung von Annahmen und Voraussetzungen.

 

6. Wissenschaft endet am Essentialismus

Mit Ludwik Fleck bedeutet Wissenschaft, Fertigkeiten im Umgang mit unterschiedlichen „Denkstilen“ zu entwickeln – und die je eigene Zugehörigkeit zu kontingenten „Denkkollektiven“ zu reflektieren. Ein solches Verfahren agiert anti-essentialistisch und unterläuft jeden „Methodenzwang“ (Paul Feyerabend).

 

7. Die Aufgabe von Wissenschaft liegt im Streit

Im vermeintlich postfaktischen Zeitalter muss Wissenschaft den öffentlichen Streit gezielter denn je suchen. Der erstarkende Autoritarismus untergräbt weltweit die institutionellen Fundamente des wissenschaftlichen Forschens. Wer sich damit bequemt, als akademische Autorität der Fakten aufzufallen, dürfte schon bald ein Spielball politischer Willkür sein. Wer es hingegen schafft, die Reden vom Postfaktischen in einen öffentlichen Methodenstreit zu verwickeln, investiert in die aktive Verteidigung der akademischen Freiheit. Nichts sollte uns dringlicher sein!